Christentum (teilweise)
In der christlichen Theologie, gleich welcher Konfession, wird unter dem Begriff Wiedergeburt eine geistige Erneuerung – eine Wiedergeburt im Glauben – verstanden. Zwar wird der Seele die Möglichkeit ewigen Lebens im Himmelreich zuerkannt, aber ihre menschliche Existenz auf Erden wird als einmalig bestimmt.
Allerdings gibt es einige Beweise dafür, daß die Vor-stellung von der Wiedergeburt – im Sinne von mehrmaliger Wiederverkörperung der Seele – Glaubensbestandteil im Christentum war.
Die Bibelanalysen von James Morgan Pryse
Im Neuen Testament finden sich einige Stellen, die die Tat-sache bestätigen, daß die Menschen in Israel zur Zeit Jesu an die Wiedergeburt geglaubt haben.
James Morgan Pryse (1859-1942) war führender amerika-nischer Theosophist und schrieb über dieses Thema in seinem Buch `Reinkarnation im Neuen Testament´. Er erklärt darin nachvollziehbar, daß es in den Schriften des Neuen Testaments keine systematische Aufstellung von Lehren, keine ausführliche Abhandlung fundamentaler Grundsätze in Religion und Philosophie gibt, sondern nur fragmentarische Erzählungen mit geringem Bemühen um Chronologie, kurze Gespräche und Briefe, gerichtet an Gesellschaften in Städten und an Einzelpersonen sowie jene mystische Ausarbeitung der Apokalypse oder geheimen Offenbarung. J. M. Pryse war der Meinung, daß der Glaube an Reinkarnation in Israel zur Zeit Jesu selbstverständlich war und auch deshalb in den Schriften keine Erklärung fand. Wäre die Vorstellung von Reinkarnation für falsch gehalten worden, wäre gegen sie in den Schriften zweifellos Anklage ausgesprochen worden, wie beispielsweise gegen Götzendienst, Fleischesmenschen, Buchstabenverehrung und Materialismus. Viele Lehren Jesu erhalten erst eine schlüssige Bedeutung, wenn Reinkarnation als Wahrheit angenommen wird.
Aus seinem Buch, aus dem Jahr 1900, beziehungsweise aus dem Neuen Testament (Einheitsübersetzung) führe ich folgende Auszüge auf:
Matthäus 11,11–14
Amen, das sage ich euch: Unter allen Menschen hat es keinen größeren gegeben als Johannes den Täufer; doch der Kleinste im Himmelreich ist größer als er ... Und wenn ihr es gelten lassen wollt: Ja, er ist Elija, der wiederkommen soll.
Matthäus 16,13–16; 17,10–13
Jesus ... fragte seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! Da fragten ihn die Jünger: Warum sagen denn die Schriftgelehrten, zuerst müsse Elija kommen? Er gab zur Antwort: Ja, Elija kommt, und er wird alles wiederherstellen. Ich sage euch aber: Elija ist schon gekommen, doch sie haben ihn nicht erkannt, sondern mit ihm gemacht, was sie wollen. Ebenso wird auch der Menschensohn durch sie leiden müssen. Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer sprach.
Kommentar von J. M. Pryse (gekürzt)
Jesus erklärt ausdrücklich, daß Johannes der Täufer Elija war. Da Johannes, der Sohn von Zacharias und Elisabeth, auf normale Weise geboren worden war, kann die aus-drückliche, uneingeschränkte Aussage von Jesus keine andere Bedeutung haben, als daß die Seele oder das innere Selbst von Elija in Johannes inkarniert wurde, wie der Engel Gabriel dem Zacharias vor der Geburt seines Sohnes verkündet hatte. (Lk 1,13–17) Elija, der mehrere Jahr-hunderte vorher in den Himmel aufgefahren war (2 Kön 2,11), war also auf die Erde zurückgekehrt, indem er einen neuen Körper angenommen hatte; mit anderen Worten: er war reinkarniert. Die Menschen, die die Werke kannten, die von Jesus vollbracht wurden, nahmen als selbstverständlich an, daß er die Reinkarnation eines der Seher, Propheten oder Wundertäter der früheren Zeiten war; sie ergingen sich in Spekulationen, welche dieser früheren Persönlichkeiten er sein könnte. Es gibt keinerlei Hinweis, daß Reinkarnation als ungewöhnlich oder außerordentlich angesehen wurde; sie wurde ganz einfach für selbstverständlich gehalten, wobei der einzige strittige Punkt die Identität des Individuums war, das reinkarnierte.
Matthäus 14,1–2
Zu dieser Zeit hörte der Tetrarch Herodes, was man von Jesus erzählte. Er sagte zu seinem Gefolge: Das ist Johannes der Täufer. Er ist von den Toten auferstanden; deshalb wirken solche Kräfte in ihm.
Markus 6,14–16
Der König Herodes hörte von Jesus; denn sein Name war bekannt geworden, und man sagte: Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden; deshalb wirken solche Kräfte in ihm. Andere sagten: Er ist Elija. Wieder andere: Er ist ein Prophet, wie einer von den alten Propheten. Als aber Herodes von ihm hörte, sagte er: Johannes, den ich enthaupten ließ, ist auferstanden.
Lukas 9,7–9
Der Tetrarch Herodes hörte von allem, was geschah, und wußte nicht, was er davon halten sollte. Denn manche sagten: Johannes ist von den Toten auferstanden. Andere meinten: Elija ist wiedererschienen. Wieder andere: Einer der alten Propheten ist auferstanden. Herodes aber sagte: Johannes habe ich selbst enthaupten lassen. Wer ist dann dieser Mann, von dem man mir solche Dinge erzählt? Und er hatte den Wunsch, ihn einmal zu sehen.
Kommentar von J. M. Pryse (gekürzt)
Da Johannes enthauptet worden war, konnte Herodes kaum annehmen, daß er im selben Körper von den Toten aufer-standen sei. Noch konnten die Menschen, die behaupteten, daß Jesus Johannes der Täufer sei, angenommen haben, daß Jesus eine Reinkarnation von Johannes sei; denn die beiden haben gleichzeitig gelebt, und die Gestalt Jesu konnte nicht mit der des Johannes verwechselt werden. Die unvermeidli-che Schlußfolgerung daraus ist also, daß Herodes und andere es für möglich gehalten haben müssen, daß die Seele eines Toten diejenige eines noch lebenden Menschen ersetzen könne; mit anderen Worten, daß Seelen und Körper aus-tauschbar seien.
Das Versprechen des Engels Gabriel an Zacharias lautete wie folgt:
Lukas 1,13–17
Deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären; dem sollst du den Namen Johannes geben. Große Freude wird dich erfüllen, und auch viele andere werden sich über seine Geburt freuen. Denn er wird groß sein vor dem Herrn. Wein und andere berauschende Getränke wird er nicht trinken, und schon im Mutterleib wird er vom heiligen Geist erfüllt sein. Viele Israeliten wird er zum Herrn, ihrem Gott, bekehren. Er wird mit dem Geist und mit der Kraft des Elija dem Herrn vorangehen.
Kommentar von J. M. Pryse
Daß Johannes – in der Gegenwart Gottes – “im Geist und in der Kraft des Elija“ war, kann keine andere Bedeutung haben, als daß das innere Selbst des Elija in Johannes inkarniert wurde.
Die Verkündigung des Jesus durch den Engel Gabriel an Maria ist folgende:
Lukas 1,31–33
Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.
Kommentar von J. M. Pryse (gekürzt)
In mystischen Schriften ist es ein übliches Sprachbild, auf einen Menschen als den “Sohn“ einer seiner vorangegan-genen Inkarnationen hinzuweisen, der sein “Vater“ in dem Sinne ist, daß die Vergangenheit die Gegenwart hervor-bringt.
Offenbarung 1,17–18
Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.
Offenbarung 22,16
Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt als Zeugen für das, was die Gemeinden betrifft. Ich bin die Wurzel und der Nachkomme Davids, der strahlende Morgenstern.
Kommentar von J. M. Pryse (gekürzt)
Das Bild könnte kaum deutlicher sein. Die “Wurzel“ Davids ist das immerwährende Selbst, das vor dem Abstieg in die Zyklen oder Äonen der Menschwerdung der “Erste“ war, der archetypische Mensch; dagegen ist der “Nachkomme“ der “Letzte“, der vollkommene Mensch, der triumphierend aus den Sphären des Werdens emporgestiegen ist, um mit vermehrtem Wissen und größerer Kraft in das Königreich des wahren Seins zurückzukehren.
Apokryphe und kanonische Evangelien
In der Folgezeit betrieben die Vertreter der paulinischen Kirche die systematische Vernichtung aller christlichen Lehren, die ihren Dogmen widersprachen. Darunter befanden sich eine Vielzahl von Evangelien, deren Zensur sogar schon früher stattgefunden hatte, als im dritten Jahr-hundert die vier Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes ins Neue Testament aufgenommen und alle übrigen verworfen worden waren. Die Evangelien der Maria Magdalena, des Philippos, des Thomas, des Judas und weitere konnten jedoch damals versteckt und so vor der Vernichtung bewahrt werden. Sie wurden im 19. und 20. Jahrhundert gefunden und erlangten als `Apokryphe Evangelien´ (griech.: apokryph = verborgen) Bekanntheit. Diese Schriften, deren Echtheit wissenschaftlich erwiesen ist, zeigen ein neues Bild von wichtigen Personen und Ereignissen zur Zeit Jesu.
Aus dem Evangelium der Maria Magdalena geht hervor, daß Maria Magdalena im Mittelpunkt der Jesus-Bewegung stand, daß sie Jesus intellektmäßig am nächsten stand, daß sie die führende Rolle unter den Aposteln hatte, was Petrus mißfiel. Bekanntlich war sie die einzige von diesen, die Jesus bei der Kreuzigung nicht verließ. Und ihr soll er – den kanonischen Evangelien zufolge – drei Tage später zuerst erschienen sein, nicht den anderen.
Aus dem Evangelium des Judas geht hervor, daß Judas als einziger der Jünger Jesus wirklich verstand. Weil Jesus erkannt hatte, daß sein Märtyrertum seiner Botschaft mehr Beachtung verschaffen würde, erbat er den Dienst, ihn zu verraten, von Judas, seinem stärksten Jünger, den dieser dann nur auf Jesu Drängen schweren Herzens erwies.
Solche Evangelien wurden von der Kirche abgelehnt und als Häresie verworfen, weil sie dem kirchlichen Absolutheits- und Machtanspruch entgegenstanden. In der von Männern dominierten Kirchen-Hierarchie durften Frauen keine hohen Ränge einnehmen. Papst Gregor I. ging sogar so weit, daß er Maria Magdalena in einer Predigt im Jahr 591 als Prostituierte diffamierte, obwohl es nie einen historischen Beweis dafür gab. Und Judas mußte als negative Symbolfigur des Judentums herhalten, um den früheren Antisemitismus der Kirche mit zu rechtfertigen.
Inzwischen jedoch wurden vonseiten der katholischen Kirche offiziell Fehler in der Vergangenheit zugegeben. So gab es 1969 eine Stellungnahme aus dem Vatikan, in der die Diffamierung Maria Magdalenas für falsch erklärt wurde. Und mit den gefundenen Evangelien konfrontiert, ließ der Vatikan verlauten, daß er deren Echtheit nicht anzweifele.
Die im Neuen Testament stehenden vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes werden als kano-nische – den Rechtsbestimmungen der katholischen Kirche gemäße – Evangelien bezeichnet. Aber wie glaubwürdig sind sie? Die vier Evangelisten waren keine Zeitzeugen Jesu. Kirchenhistorikern zufolge wurden die ersten drei dieser Evangelien zwischen den Jahren 70 und 90 verfaßt. Das Johannes-Evangelium folgte vermutlich kurz darauf. Ihren Ausführungen lagen verschiedene Berichte zugrunde. Matthäus und Lukas verwendeten außerdem das Markus-Evangelium als Vorlage, das Johannes-Evangelium nimmt dagegen eine Sonderstellung ein.
Beim Vergleich der vier Evangelien fallen vom Anfang bis zum Schluß Abweichungen und Widersprüche auf. Die Evangelisten wollten vorrangig keinen Historienbericht verfassen, sondern eine Botschaft verbreiten. Zugegebener-maßen ist diese `Frohe Botschaft´ (lat.: Evangelium) in ihrem Sinngehalt gesamt in den vier Evangelien überwiegend gleich.
Für Veränderungen der ursprünglichen zumeist in grie-chischer Sprache verfaßten Bibeltexte verantwortlich war Hieronymus, der im Jahr 383 von Papst Damasus I. den Auftrag erhielt, einen einheitlichen lateinischen Bibeltext zu erstellen. Es entstand die Vulgata – die lateinische Bibel. Hieronymus hatte einen Teil der Textgrundlagen durch Abänderungen der kirchlichen Dogmatik angepaßt.
Zwischen den Zeilen sind jedoch die Inhalte der abge-lehnten Glaubensbestandteile erhalten geblieben, wie die Bibeltextstellen, die in den Bibelanalysen von James Morgan Pryse vorgestellt sind, zeigen.
Die apokryphen Evangelien werden den frühchristlichen gnostischen Schriften zugeordnet.
Anmerkung
Das Alte Testament, als jüdisches Religionswerk, ist von der Kirche unbeeinflußt geblieben.
Eine Textstelle darin mit direkter Bezugnahme zur Prä-existenz der Seele, deren Vorstellung eng verbunden ist mit der Vorstellung von der Wiedergeburt, steht im Buch `Weisheit´, in der Salomo folgendes über sich selbst feststellt:
Ich war ein begabtes Kind und hatte eine gut veranlagte Seele erhalten, oder richtiger: Da ich gut war, kam ich in einen unverdorbenen Leib. (8,19)
Die christlichen Gnostiker
`Gnosis´ (griech.) heißt Erkenntnis und ist zuerst und zuletzt die Einsicht in das eigene Selbst.
Gnostiker waren Intellektuelle und vertraten den Stand-punkt, daß nicht der Glaube, sondern das Wissen die Ret-tung bringt.
Als Gründer oder zumindest als Vorläufer der christlich-gnostischen Bewegung gilt Simon von Gittai, der bereits um das Jahr 40 wirkte. Die bedeutenden Gnostiker Basilides und Valentinos lehrten in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. In vielen Städten des römischen Weltreichs bestanden neben den paulinisch-christlichen Gemeinden gnostisch-christliche mit ihren eigenen Bischöfen. Die gnostischen Lehren unterschieden sich gravierend von den Meinungen der paulinischen Kirchenvertreter. So waren die Gnostiker der Annahme, der im Alten Testament gemeinte Gott sei nicht derselbe wie der Gott des Neuen Testaments; dieser stehe höher als jener.
Nach der Emanationslehre des valentinianischen Systems ist das Universum aus einem unfaßbaren ewigen Urgrund – auch Vorvater genannt – durch Vereinigung mit der mit ihm existenten Gedankin – auch Stille genannt – hervor-gegangen. So sind göttliche Prinzipien erschaffen worden: Sinn – der Anfang und Vater des Universums – und Wahrheit, aus diesen Wort und Leben, aus diesen Mensch und Gemeinde. Und noch weitere Äonen sind erschaffen worden.
In der gnostischen Vorstellung sind Funken des göttlichen Wesens in die materielle Welt gefallen. Dadurch kann der Mensch auf Erden das göttliche Element in sich wieder-erwecken und in seine Heimat, den spirituellen Bereich, zurückkehren.
Die Wiedergeburtsvorstellung ist fester Bestandteil der christlich-gnostischen Lehre.
Nach den gnostischen Schriften durchlaufen die Seelen jede Lebensweise. Dadurch haben sie beim letzten Tod in nichts mehr Mangel. Die Seelen sollen darauf hinarbeiten, sich von dem Zwang zur Wiederverkörperung zu befreien.
Jesus soll daher folgende Parabel erzählt haben:
„Wenn du mit deinem Rechtsgegner unterwegs bist, so beeile dich, daß du dich von ihm freikaufest, auf daß er dich nicht vor den Richter schleppe und der dich dem Pedell übergibt, welcher dich ins Gefängnis wirft. Amen. Ich sage dir, du wirst nicht mehr herauskommen, es sei denn, du hättest den letzten Heller bezahlt.“
Mit Rechtsgegner ist Satan gemeint, der als Engel dazu geschaffen ist, die verstorbenen Seelen dem Weltfürsten zuzuführen. Dieser ist der erste der Weltschöpfer und übergibt solche Seelen einem anderen Engel, damit der sie wiederum in Körper einschließt. Die gnostische Auslegung des Jesus-Zitats besagt weiter, daß der Körper das Gefängnis ist und aus der Macht der Engel, die die Welt schufen, nicht herauszukommen ist, ehe die Seele sich von der letzten Schuld befreit hat. Bis dahin und bis sie bei allem Tun auf der Welt dabei war, wird die Seele jedesmal wieder-eingekörpert. Erst wenn sie alles erfüllt hat, steigt die nun befreite Seele auf zu dem Gott, der über den Weltschöpfer-engeln ist. So wird sie gerettet. Alle Seelen werden befreit, egal ob sie sich in einem einzigen Leben auf alles Tun eingelassen haben, oder ob sie von Körper zu Körper weiterwandern und in jeder Art leben, um die Schuld zu begleichen.
Auf eine Verbindung zwischen gnostischer und orphischer Seelenlehre weist folgende Selbstvorstellungsformel hin, wie sie von Epiphanius im Evangelium des Philippus überliefert ist:
Der Herr hat mir geoffenbart, was die Seele sagen muß, wenn sie in den Himmel aufsteigt, und wie sie einer jeden der oberen Mächte antworten muß, nämlich folgenderma-ßen: „Ich habe mich selbst erkannt und habe mich selbst von überall her gesammelt; ich habe keine Kinder für den Archonten gesät, sondern habe seine Wurzeln ausgerissen und habe die zerstreuten Glieder gesammelt; und ich weiß, wer du bist. Denn ich gehöre zu denen von oben.“ Und so wird sie freigelassen. Wenn es sich aber findet, daß sie einen Sohn geboren hat, wird sie unten festgehalten, bis sie imstande ist, ihre eigenen Kinder aufzunehmen und zu sich zu kehren.
Anmerkung
Interessant ist bei dieser Selbstvorstellungsformel, außer dem Teil, der an einen Text der orphischen Goldplättchen erinnert, die Erklärung, daß die Seele, um die Wiederge-burtenfolge abzuschließen, keine Kinder in die Welt setzen darf, oder, wenn dies der Fall ist, sie bewirken muß, daß ihre Kinder die Vollkommenheit erlangen.
Es folgt ein Auszug der Geheimschrift des Johannes:
Ich aber sprach: „Christus, ist es so, daß die Seele in sich zusammenfällt und wieder in die Natur der Mutter oder des Menschen hineingeht?“ Als ich ihn so fragte, freute er sich und sprach: „Du bist selig zum Verstehen. Ja, sie werden einem anderen gegeben, in dem der Geist des Lebens ist, auf daß der nachfolge. Und wenn sie durch den hört, wird sie gerettet. In ein anderes Fleisch geht sie freilich nicht ein.“
Für die Gnostiker ist Jesus ein einfacher Mensch gewesen, der seine Tugendhaftigkeit in höherem Maße entwickelt hatte als die übrigen Menschen. Und so ist er von dem geistigen Christus-Prinzip – gewissermaßen seinem höheren Selbst – erfüllt gewesen. Dies können alle Menschen, die es wirklich wollen, erreichen.
In der gnostischen Gemeinschaft waren die Frauen den Männern gleichgestellt; es wurde auch Frauen der Vorsitz beim Abendmahl eingeräumt.
Nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch den oströmischen Kaiser Theodosius I. (345-395)setzte der Niedergang der christlich-gnostischen Gemeinden ein. Ihre Mitglieder wurden der Häresie bezichtigt, verfolgt oder vertrieben, ihre Schriften vernichtet oder zu vernichten versucht.
Anmerkung
Intoleranz und Aggression der Kirche richteten sich nicht nur gegen andere christliche Gemeinschaften, sondern auch gegen die Angehörigen der alten Religionen und die Anhänger der griechisch-römischen Philosophie.
Zwei tragische Ereignisse machen dies besonders deutlich: der Lynchmord an Hypatia (370-415), der hellenischen Astronomin, Mathematikerin und neuplatonischen Philo-sophin, in Alexandria durch einen christlichen Mob, der von Patriarch Kyrill I. (posthum heilig gesprochen und zum Kirchenvater erklärt) aufgehetzt wurde und die Schließung der von Platon gegründeten Akademie in Athen durch Kaiser Justinian im Jahre 529, welche mit der Gründung des ersten Klosters im Abendland auf dem Monte Cassino im selben Jahr die symbolische Wende von der Antike zum Mittelalter bezeichnet.
Zum Vergleich hat sich das arianische Christentum, das ebenfalls von der Kirche der Häresie bezichtigt wurde, in einigen Gebieten des Römischen Reiches länger gehalten. So nahmen einige Germanenvölker, wie Goten, Vandalen und Langobarden, die zum Christentum konvertierten, den arianischen Glauben an, bis durch den Einfluß der Franken ab dem sechsten Jahrhundert fast alle von ihnen zum Katholizismus übertraten.
Glaubensinhalte der christlich-gnostischen Lehre wurden vom Manichäismus – der von Mani (216-277) aus Baby-lonien begründeten Religion – übernommen und ver-schmolzen mit dem Zoroastrismus – der von Zarathustra im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert in Persien begründeten Lichtreligion. Der Manichäismus verbreitete sich im 3. und 4. Jahrhundert östlich bis nach Indien und westlich bis nach Spanien.
Die Lehre der Katharer soll vom Manichäismus beeinflußt gewesen sein.
Orientalische Religionen
In den beiden Hauptrichtungen des Islam: Sunnitentum und Schiitentum besteht nur der Glauben an die einmalige Existenz des Menschen auf Erden bei anschließender Ein-kehr in Himmel oder Hölle. Die Vorstellung der Reinkar-nation wird als Häresie – Ketzerei – verworfen.
Dies gilt jedoch nicht für die islamische Mystik – den Sufismus oder Tasawwuf. Auch kleinere Glaubensge-meinschaften im Islam: Aleviten und Alawiten oder die diesem kulturell nahestehen: Drusen und Jesiden bejahen die Reinkarnation, die Bestandteil ihrer religiösen Lehren ist.
Sufismus
Sufismus ist die Bezeichnung für mehrere mystische Strö-mungen im Islam, die ab dessen Anfangszeit entstanden sind. Die Sufis sind in Ordensgemeinschaften – Tariqas –organisiert, die über die islamischen Länder verteilt sind und größtenteils dem Sunnitentum oder dem Schiitentum angehören. Es bestehen auch Sufiorden, die beiden Rich-tungen und solche, die keiner davon zugeordnet werden können, die für einen universellen Sufismus stehen.
Die Mitglieder der Sufiorden leben zumeist nicht zölibatär und auch nicht in geschlossenen Klöstern. Sie praktizieren ihren Glauben im Alltag und halten einmal wöchentlich Zusammenkünfte ab. Spirituelle Meister, Scheichs genannt, leiten sie an.
Von einzelnen umherziehenden Asketen begründet, zeich-net sich der Sufismus im allgemeinen durch seine philoso-phische Spiritualität und darauf basierend seine Akzeptanz anderer Religionen aus. Für Sufisten, sofern sie nicht Anhänger der Scharia – der islamischen Rechtsprechung – in deren strengeren Anwendung sind, wohnt allen Religionen der gleiche göttliche Kern inne.
Mittelpunkt der sufistischen Lehre ist die Liebe zu Gott. Die Liebe selbst ist durch die Verteilung der göttlichen Essenz im Universum wahrnehmbar. Das höchste Ziel im Sufismus ist die Vereinigung mit Gott, die schon im irdischen Leben zu erreichen angestrebt wird durch das Loslösen von materiellen Anhaftungen, die Beherrschung der Triebe und die Umwandlung von negativen Eigenschaften in positive. Wichtigstes Mittel dazu ist die regelmäßige Meditation – Dhikr: Gedenken an Gott – die bei fortgeschrittenen Sufis optimalerweise auch während der alltäglichen Beschäftigun-gen im Herzen ständig weiterstattfinden soll.
Eine spezielle Form der Meditation ist der Tanz der Derwische (persisches Wort für Sufis). Vor allem von den Mitgliedern des in der Türkei ansässigen Mevlevi-Ordens praktiziert, drehen sich die Tänzer zu Flötenmusik im Kreis, die rechte Handfläche nach oben gerichtet, um symbolisch den Segen Gottes zu empfangen, die linke Handfläche nach unten gerichtet, um ihn symbolisch in der Welt zu verteilen.
In sufistischer Vorstellung ist in jedem Menschen ein göttlicher Funke enthalten, der im tiefsten Herzen verborgen ist. Sinn des Lebens ist es, diesen Funken zu entfachen und zur göttlichen Flamme werden zu lassen.
Im Sufismus besteht der Glauben an die Reinkarnation, deren Sinn die stufenweise Vervollkommnung der Seele ist.
Im Buch `Mathnawi´ des persischen Dichters und Sufi-meisters Dschalal ad-Din ar-Rumi (1207–1273), aufdessen Lehre der Mevlevi-Derwischorden begründet ist, steht folgendes Gedicht:
„Ich starb als Mineral und wurde Pflanze,
Ich starb als Pflanze und wurde Tier,
Ich starb als Tier und wurde Mensch.
Warum soll ich mich fürchten?
Wann wurd ich weniger durch einen Tod?
Noch einmal werd ich sterben als ein Mensch,
Nur um dann aufzusteigen mit der Engel Segen.
Doch auch vom Engelsdasein muß ich weitergehen…“
Der Sufismus befindet sich spirituell in nächster Nähe zum einstigen gnostischen Christentum und zum Kabbalismus im Judentum.
Wegen ihrer überreligiösen Spiritualität werden die Sufisten auch in heutiger Zeit von den Fundamentalisten und Extremisten der Häresie bezichtigt.
In Saudi-Arabien seit Jahrzehnten unterdrückt, sind die Sufisten im Iran wegen des regen Zulaufs junger Menschen seit Mitte der 2000er Jahre massiver Unterdrückung durch die Regierung ausgesetzt und in Pakistan fanden seit etwa der gleichen Zeit mehrere Terroranschläge auf vielbesuchte sufistische Heiligtümer statt.
In südosteuropäischen Ländern und in der Türkei ist der Sufismus geachtet, und in einigen westafrikanischen Län-dern sind große Bevölkerungsteile sufistisch.
International genießt der Sufismus hohe Wertschätzung. Der Tanz der Derwische des Mevlevi-Ordens wurde im Jahr 2005 in die UNESCO-Liste der `Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit´ aufgenommen.